Die Projekte des Bereichs B untersuchen, in welcher Weise sich das Wechselspiel von Pluralisierung und Autorität in den frühneuzeitlichen Ordnungen des Wissens widerspiegelt. Sie betrachten dabei nicht mehr die gelehrten Diskurse selbst (Projektbereich A), sondern hauptsächlich die Ebene der Vermittlung von Wissen.
Der gemeinsame Ausgangspunkt des Projektbereiches besteht in der Überlegung, daß der Bestand verfügbaren Wissens aufgrund einer Vielzahl von Faktoren seit dem Spätmittelalter wuchs (neue Völker, Sprachen, Texte etc.). Schon die quantitative Ausweitung des Wissens machte dabei neue Binnendifferenzierungen, neue Ordnungs- und Findsysteme notwendig. Neues Wissen barg in seiner Alterität zudem nicht selten eine qualitative Herausforderung, wenn es die traditionellen Ordnungen des Wissens ergänzte, veränderte oder gar in Frage stellte. Neue oder modifizierte Wissensordnungen gewannen ihre Autorität dabei weniger durch intervenierende Herrschaftsinstitutionen (Indizierungs- und Zensurmaßnahmen) als durch modifizierte Leitmodelle und Praktiken der Hierarchisierung, Monopolisierung, Repräsentation und Vermittlung des Wissens. Gemeinsames Ziel des Projektbereiches B ist es, den epochenspezifischen Umgang mit dem Phänomen der Pluralisierung von Wissen im Bereich seiner Ordnungen nachzuzeichnen. Hierzu werden die Strukturen, Funktionen und Darstellungsweisen frühneuzeitlichen Wissens untersucht.
Die sich verändernden 'Strukturen' frühneuzeitlichen Wissens zeichnen sich am deutlichsten in zentralen Gattungen der Wissensaufbereitung ab, d.h. in enzyklopädischen und wissenskompilatorischen Werken. Sie lassen sich präzise anhand ausgewählter Wissensfelder beschreiben, deren Inhalte, Binnenstrukturen und Grenzen sich im Zuge des Wissenszuwachses veränderten. So konzentriert sich das Teilprojekt B3 (Harms) auf das Themenfeld 'Bildung' in den wirkungsreichen Texttypen von Enzyklopädie und Florilegium, um Phänomene der Bewahrung, Ergänzung und Korrektur innerhalb eines Grundbestandes des Wissens sowie seiner Werte und Argumentationen zu ermitteln und so die Konkurrenz von Beharrung und Veränderung zu ermessen. Analog dazu untersucht das Teilprojekt B4 (Müller) die Strukturierung von Wissensinhalten anhand von historica und poetica, also von solchen Wissensfeldern, die — empirieoffen und traditionskonstituierend zugleich — heterogenes Material aus dem Bereich der facta und ficta versammelten. Damit wird die Frage aufgeworfen, wie die Metaphern für eine umfassende Ordnung des Wissens, die u. a. in den Projekten B3 (Harms) und B1 (Brendecke) mit untersucht werden sollen, in der konkreten Thesaurierung von Wissen umgesetzt werden. Das Teilprojekt B1 (Brendecke) wendet sich dabei den 'Schauplätzen' des Wissens zu, d.h. sich neu formierenden thematischen und disziplinären Schwerpunkten und Grenzen, deren Entstehung und Relevanz sich am Beispiel der Historiographie, Wissenskompilatorik und Astrologie aufzeigen lassen.
Bei diesen Untersuchungen wird also davon ausgegangen, daß sich die Strukturen im Abgleich mit der jeweiligen Funktion des umfaßten Wissens herausbildeten. Fragen nach der Leserschaft, nach Informationsbedürfnissen sowie didaktischen, merktechnischen und graphischen Vermittlungspraktiken werden deshalb mitbedacht. Die tatsächliche Verzahnung von Theoriebildung und Praxisvollzug läßt sich besonders anhand von solchen Wissensbereichen überprüfen, die lange tradierte Deutungs- und Ordnungsvorstellungen in Konfrontation mit neuem Wissen sahen. So untersucht das Teilprojekt B5 (Oesterreicher) die Wissenstraditionen in der Christianisierung Amerikas. Dabei werden erstens die missionarlinguistischen grammatischen Beschreibungen der indianischen Sprachen betrachtet, die schließlich zur Transformation traditioneller grammatischer Kategorien und Bewertungen führten. Zum anderen zeichnet das Projekt die Thesaurierung indianischen kulturellen Wissens in enzyklopädischen Gesamtdarstellungen nach, die wiederum in den Dienst der Evangelisierung gestellt wurden. Der Einfluß des je neuen Wissens um Sprache und Religion bislang unbekannter Völker soll drittens anhand der Transformationen religiöser Lehre und Praktiken in den konkurrierenden katechetischen Modellen der missionierenden Orden untersucht werden.
Neues Wissen und neue Ordnungen bezogen in der Frühen Neuzeit ihre Legitimität zudem ganz maßgeblich aus der Evidenz ihrer 'Darstellung', d. h. aus neuen Bildsprachen, die die visuelle Aneignung und Repräsentation von Wirklichkeit ermöglichten, erleichterten und ihrerseits formten. Eine entscheidende Voraussetzung für neue Darstellungspraktiken war die Einführung der Perspektive als wissenschaftlich fundiertes Verfahren zur bildlichen Wiedergabe der Wirklichkeit, der sich das Teilprojekt B2 (Büttner) zuwendet. Am Ende des langen Ablösungsprozesses von mittelalterlichen Formen der Bildherstellung und Bildwahrnehmung war das Bild zum führenden Medium der Empirie geworden, das Autorität beanspruchen konnte wie das Experiment, aber keineswegs darauf festgelegt war, weil die Perspektive sich im gleichen Zug als das führende Mittel zur Konstruktion von Illusion etablierte. Die Frage, welche Rolle das Bild in dieser Hinsicht gespielt hat, wird zu überprüfen sein, wobei zum einen nach der Vermittlung eines Wissens von der Person im graphischen Porträt gefragt werden soll, zum anderen nach den Strategien, mit denen der Einsatz der Bilder in den konfessionellen Auseinandersetzungen betrieben wurde.
Mit diesen Fragen nach der Visualisierung des Wissens schließt sich der Kreis der Untersuchungsschwerpunkte in einem methodischen wie arbeitspraktischen Sinn. Dies nicht zuletzt deshalb, weil sich das kunstgeschichtliche Projekt seinerseits Fragen der Visualisierung des Wissens in enzyklopädischen Werken des 16. und 17. Jahrhunderts zuwenden wird (B2, Phase II) und damit die Untersuchungen von Brendecke (B1), Harms (B3) und Müller (B4) methodisch und inhaltlich flankiert. Zugleich sollen nun visuelle Argumentationsformen untersucht werden, die etwa im 'Kampf der Bilder' die Evangelisierung der Indios (B5 (Oesterreicher), B2 (Büttner), Phase II) begleiteten.
Die thematische Ausrichtung der Teilprojekte des Projektbereichs B tragen der Tatsache Rechnung, daß die Ordnungen des Wissens den Herausforderungen, die die Pluralisierung des Wissens mit sich brachte, mit einer von pragmatischen bis paradigmatischen Lösungen reichenden Vielfalt begegneten. Das Problem der Wissensordnung läßt sich daher keineswegs auf die Systematik zeitgenössischer Ordnungsprogramme reduzieren. Es verlangt die sorgfältige Exploration einzelner Wissensfelder und -gebiete und ihrer Repräsentationsformen. Indem die vorgestellten Teilprojekte auf je eigene Weise die Frage nach der Struktur, Funktion und Darstellungspraxis des Wissens stellen, arbeiten sie gemeinsam an einer disziplinenübergreifenden Antwort auf die Komplexität frühneuzeitlicher Wissensordnungen.