Der Projektbereich 'Ambivalenzen des gelehrten Diskurses' ist am engsten mit der traditionellen Humanismus-Forschung verbunden. So liegen den hier angesiedelten Teilprojekten als Materialbasis Texte zugrunde, die der frühneuzeitlichen Gelehrtenkultur und ihrer Auseinandersetzung mit der Antike zuzurechnen sind. Allerdings ist die Frageperspektive eine spezifische. Es geht nämlich nicht darum, Traditionslinien innerhalb dieser Gelehrtenkultur nachzuzeichnen, ihre Verbindung mit antiken und ihre Verlängerung in moderne Denk- und Schreibmuster zu untersuchen und ihre Neuheit oder auch vermeintliche Neuheit gegenüber der mittelalterlichen Kultur darzutun. In Verschiebung des Forschungsinteresses sollen diese Texte hier neuerlich gelesen werden hinsichtlich ihrer Legitimationsbasis, ihrer Begründungsdefizite und ihrer immanenten Widersprüche. Die intellektuellen Konstitutionsmechanismen dieser Texte, die denkerischen Bedingungen ihrer Möglichkeit sowie die aus den praktischen Schwierigkeiten bei deren Verwirklichung folgenden Ambivalenzen sind deshalb das erkenntnisleitende Interesse der Textlektüre. Auf diese Weise sollen die gegenstrebigen Kräfte in der Episteme des sog. Humanismus — in Absetzung ebenso von einer bloßen Traditionsgeschichte wie von den teleologischen Implikationen einer Fortschrittsgeschichte (Humanismus als 'Protoaufklärung') — in ihrer Komplexität und Ambivalenz vor Augen geführt werden.
Auf diesen gemeinsamen Fokus hin sind die einzelnen Teilprojekte ausgerichtet: Das Teilprojekt A5 (Vollmann) untersucht die begriffsgeschichtlichen Grundlagen, indem es die Begriffsfelder von auctoritas und veritas im 15. Jahrhundert kartographiert. Dabei werden prinzipiell alle Gattungen lateinischer Literatur durchmustert, so daß die Fixierung auf humanistische Neuerungen durchbrochen wird und Veränderungen, Gleichzeitigkeiten sowie Krisenmomente im zeitgenössischen Autoritätsverständnis sichtbar gemacht werden können. Im Teilprojekt A7 (Worstbrock) werden Konzeptionen von Autor und Text zwischen dem 14. und dem 16. Jahrhundert untersucht. Gerade in der Unterscheidbarkeit zu vorgängigen wie gleichzeitigen 'mittelalterlichen' Konzeptionen wird die Entstehung einer modernen Autoridee im Sinne eines Schöpfers mit individueller Charakterologie und einer neuen Beziehung von Autor und Text einschließlich einer Neudefinition der Übersetzungspraxis und -theorie, Editionstechnik und Autorengeschichten plastisch und verstehbar. In diesen Kontext fügt sich auch das Teilprojekt A1 (Keßler) ein. Hier steht die von den italienischen Humanisten praktizierte und gelehrte Methode exzerpierenden Lesens im Zentrum, welche die überlieferten Texte fragmentarisiert und in der praktischen wie in der theoretischen Philosophie gleichermaßen die Entwicklung neuer Begründungs- und Ordnungsstrukturen fordert. Damit eng verknüpft ist die Problematik des Teilprojektes A4 (Regn), in dem am Beispiel der italienischen Lyrikkommentare die Begründung neuer Autorität in der volkssprachlichen Dichtung untersucht wird, wobei sich zeigt, daß die humanistisch geprägte Interpretationspraxis ihr eigentliches Ziel der Kanonisierung unterläuft, Pluralisierungstendenzen befördert und den Boden für eine neue, autoritätsfreie Hermeneutik bereitet. In diesem Zusammenhang richtet sich das Teilprojekt A3 (Müller) auf eines der folgenreichsten Kulturmuster der europäischen Geistesgeschichte, die Imitatio. Doch geht es weder nur um deren Bedeutung für die frühneuzeitliche Poetik, noch auch um die verschiedenen Versuche, Imitatio inhaltlich zu bestimmen und zu differenzieren, sondern gefragt wird nach den im allgemeinen verdeckten Begründungskonzepten, die das Verhältnis der frühneuzeitlichen Kultur (Literatur, Kunst, Politik) zur vorbildlichen antiken betreffen. In der Imitatio-Debatte wird die Auseinandersetzung zwischen normativer Geltung und Pluralisierungstendenzen stellvertretend für die frühneuzeitliche Kultur ausgetragen. Das Projekt von Helmut Zedelmaier, der seine Forschungen von der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel aus betreibt und der dem SFB als auswärtiges Mitglied kooptiert wurde, befaßt sich hingegen mit dem Streit um die 'ältesten Ursprünge', der symptomatisch für den prekären Status der auctoritas angesichts der Pluralisierung von Wahrheits- und Ordnungsinstanzen ist: Mit dem Argument 'älteste Ursprünge' werden häufig gerade neue Institutionen politischer und kirchlicher Herrschaft legitimiert oder die Überlegenheit von Nationen und die Geltung wissenschaftlicher Diskurse nachgewiesen. Die hier wie in den übrigen Teilprojekten zur Debatte stehenden Ambivalenzen des gelehrten Diskurses gewinnen mit fortschreitender Pluralisierung im 17. Jahrhundert noch an Brisanz; Ausweichstrategien wie die des Synkretismus verfallen zunehmend der historisch-philologischen Kritik. Daher fragt das Teilprojekt A2 (Mulsow) nach Symptomen und Spätfolgen pluralisierter Weltsicht in akademischen Texten des 17. Jahrhunderts, die sich an so unterschiedlichen Phänomenen wie burlesker Sprache, menippeischer Satire und gelehrter Libertinage beobachten lassen. Damit erschließt sich eine neue Sicht auf ambivalente und subversive Texte der Barockzeit; zugleich wird eine Brücke geschlagen zur Sphäre der Pragmatisierung (Projektbereich C), indem jene Schreibweisen als Versuche der Bewältigung einer immer vielschichtiger gewordenen Praxis erscheinen.
Die Teilprojekte zu den Ambivalenzen des gelehrten Diskurses stehen mithin in engem Zusammenhang untereinander: die begriffsgeschichtlich fundierte Rekonstruktion der Konzepte von auctor, auctoritas, veritas (A5 (Vollmann)), die ergänzt wird durch eine Darstellung der Entwicklung, die seit dem Humanismus zum modernen Autorbegriff führt (A7 (Worstbrock)), hängt unmittelbar zusammen mit der Untersuchung poetischer bzw. historiographischer Praxis (A3 (Müller), A4 (Regn)) und der Begründung von praktischer und theoretischer Philosophie (A1 (Keßler)). Mit der Frage nach den 'ältesten Ursprüngen' ist eine paradoxe Legitimationskategorie kultureller Geltung angesprochen Projekt HAB Wolfenbüttel (Zedelmaier)) und mit dem Teilprojekt zur späthumanistischen Libertinage (A2 (Mulsow)) eine Kontrastfolie zu den Versuchen einer Austarierung des Verhältnisses von Pluralität und Autorität aufgespannt. Allen Teilprojekten gemeinsam ist somit die Konzentration auf die frühneuzeitliche Produktion gelehrten Wissens, auf den Umgang mit vorhandenen Werken und die Konstitutionsbedingungen neuer Texte, auf die Möglichkeiten und Legitimationen gelehrter Argumentation in der Frühe Neuzeit.